Bevor ich jetzt gehe by Kalanithi Paul

Bevor ich jetzt gehe by Kalanithi Paul

Autor:Kalanithi, Paul
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Knaus Verlag
veröffentlicht: 2016-06-30T16:00:00+00:00


TEIL II

DER PATIENT

Und hoffe, bis zu meinem Tod nicht aufzuhören.

Walt Whitman, Gesang von mir selbst

Wenn ich ein Bücherschreiber wäre, legte ich

ein kommentiertes Register der verschiedenartigen Tode an.

Wer die Menschen sterben lehrte, würde sie leben lehren.

Michel de Montaigne,

Philosophieren heißt sterben lernen

Ich lag neben Lucy im Krankenhausbett, wir weinten, die CT-Scans leuchteten noch auf dem Computerbildschirm, und meine Identität als Arzt spielte keine Rolle mehr. Nachdem der Krebs auf verschiedene Organe übergegriffen hatte, war die Diagnose eindeutig. Es war still im Raum. Lucy sagte mir, dass sie mich liebte. »Ich will nicht sterben«, erwiderte ich. Ich sagte zu ihr, dass sie wieder heiraten solle, dass ich den Gedanken nicht ertragen könne, dass sie allein ist. Ich schlug vor, die Finanzierung für unser Haus umgehend zu ändern. Wir riefen Angehörige an. Victoria kam vorbei, wir sprachen über die Scans und die Behandlung. Als sie ansprach, wann und wie ich wieder arbeiten würde, unterbrach ich sie.

»Victoria, ich werde nie wieder als Arzt hierher zurückkommen, und du weißt es.«

Ein Kapitel meines Lebens schien beendet zu sein, vielleicht schloss sich aber auch das ganze Buch. Statt weiterhin eine Art Pastor zu sein, der bei einer Lebenskrise Beistand leistete, war ich nun selbst das verlorene, verwirrte Schaf. Eine schwere Erkrankung war nicht lebensverändernd, sondern lebensvernichtend. Es war für mich weniger das legendäre helle Licht, das die wirklich wichtigen Dinge unwillkürlich aufscheinen lässt – vielmehr war es, als hätte jemand gerade den Weg vor mir zerbombt und ich müsste nun einen weiten Umweg gehen.

Mein Bruder Jeevan besuchte mich.

»Du hast so viel erreicht«, sagte er. »Das weißt du doch, nicht wahr?«

Ich seufzte. Er meinte es gut, aber die Worte klangen hohl. Ich hatte in meinem Leben eine Zukunft aufgebaut, die ich nun nicht mehr erleben würde. Ich hatte so viel vorgehabt und war so nahe dran gewesen. Mit der körperlichen Schwächung brachen die Träume und meine Identität in sich zusammen, ich steckte im selben existenziellen Dilemma wie sonst meine Patienten. Der Tod, der mir bei der Arbeit so vertraut gewesen war, besuchte mich jetzt persönlich. Da standen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und dennoch erkannte ich ihn nicht wieder. An der Weggabelung, an der ich den Fußspuren der zahllosen Patienten, die ich über die Jahre behandelt hatte, hätte folgen sollen, sah ich nur Leere vor mir, eine schroffe, nackte, gleißend weiße Wüste, als hätte ein Sandsturm die Spuren alles Bekannten ausgelöscht.

Die Sonne ging langsam unter, als die Kollegin aus der Onkologie vorbeikam, Emma Hayward. Ich kannte sie ein wenig, ich hatte einige ihrer Patienten behandelt, aber mehr als berufliche Höflichkeitsfloskeln hatten wir nie miteinander gewechselt. Meine Eltern und Brüder saßen im Zimmer, Lucy hielt meine Hand, keiner sagte viel. Als Emma hereinkam, zeigte ihr weißer Kittel Spuren eines langen Tages, aber ihr Lächeln war frisch. Hinter ihr kamen ihr Kollege und ein Assistenzarzt. Sie war nur ein paar Jahre älter als ich, hatte langes, dunkles Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war. Sie schob einen Stuhl heran.

»Hi, ich bin Emma. Tut mir leid, dass ich es heute kurz machen muss, aber ich wollte mich persönlich vorstellen.



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